Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Es ist ein seltsam anmutender Anblick - zumindest auf den ersten Blick. Dann setzt man die Chroma-Depth-Brille auf. Und das Gemälde "Flirrende Stille" nimmt plötzlich eine völlig andere, räumliche Gestalt an. Farbklänge entfalten eine viel tiefere Wirkung. Werden intensiver. Allein dieser "Switch" vom Zwei- ins Dreidimensionale macht die Ausstellung "Meine bunten Hirngespinste" von Dorle Wolf so interessant. Am 8. Juli um 19 Uhr wird in der Galerie im Treppenhaus des Kolping-Centers Mainfranken Midissage gefeiert.
Jeder Mensch darf sich seine eigene Welt zusammenfantasieren. Diese Überzeugung steckt hinter dem etwas irritierenden Titel, den die 78-jährige Künstlerin aus Gerbrunn für ihre Schau von Werken ganz unterschiedlicher Machart und Thematik gewählt hat. Wohl wissend, dass sie damit womöglich in ein Wespennetz sticht. "Hirngespinste" - das klingt dieser Tage gar zu sehr nach "Fake-News". Oder "Verschwörungstheorie". Das lässt an die sich verschärfende Cancel Culture-Debatte denken. Und an den medial verbreiteten Appell: "Immer schön bei der Wahrheit bleiben!" Doch was ist die Wahrheit? Was ist die Wirklichkeit? Und wie wirklich ist das, was wir für bare Münze nehmen?
Was Wirklichkeit ist, das ist eine ganz und gar nicht banale Frage. Dorle Wolf befasst sich seit Jahrzehnten mit ihr. Und zwar zunächst an der Seite ihres Mannes Rainer, der sich bis zu seiner Emeritierung an der Uni Würzburg mit Wahrnehmungsforschung befasst hat. 1971 stieg die gelernte Medizinisch-technische Assistentin als freie Mitarbeiterin in das Forschungslabor ihres Mannes ein. Auch hier hatte sie es lange mit Farben zu tun: "Und zwar durch die Histologie." Anfang der 1990er Jahre begann Dorle Wolf, zu malen. Das tat sie zunächst, wenn Zeit war. Und dann immer intensiver. Bis sie entschied, dass sie das, was sie bisher getan hatte, aufgeben wollte. Um nur noch Kunst zu schaffen.
Den Zeitpunkt, wann die Würfel gefallen waren, kann Dorle Wolf sehr genau bestimmen. Das war an jenem Tag 1994, als Teppichkünstlerin und Malerin Eva Betzler, die sie sich als ihre Mentorin erkoren hatte, zu ihr meinte: "Ab jetzt sind Sie besser als ich!" Kunst wurde fortan Dorle Wolfs Leben. Was für sie bis heute vor allem bedeutet, mit Techniken zu experimentieren. In der Galerie im Treppenhaus sind zum Beispiel eindrucksvolle Werke zu sehen, die quasi aus zwei Bildern bestehen. Das zweite, zunächst unsichtbare Bild wird nur dann erkenn- und erlebbar, wenn ein UV-Lichtstrahl über die Oberfläche wandert. Womit wir wieder beim Thema "Wirklichkeit" wären.
Kreativität ist ein angeborenes Charaktermerkmal von Dorle Wolf. Schon ihrem Kunstlehrer fiel ihr Talent auf: "Er schlug meinen Eltern vor, dass sie mich Kunst studieren lassen sollten." Das war für die aber alles andere als vorstellbar. Kunst bereitet wohl Freude. Galt aber als "brotlos". Im Rückblick bedauert Dorle Wolf die Entscheidung nicht. Gewann sie doch, statt auf der Kunstakademie ge- oder, wer weiß, verbildet worden zu sein, faszinierende Einblicke in die Naturwissenschaft. Das Experimentieren begann, sie zu fesseln. Begeisternd war für sie vor allem, zu erfahren, was alles entstehen konnte, wenn man spielerisch, ohne festes Ziel im Labor dies oder jenes einfach mal versucht.
Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, sich selbst zu verwirklichen und das auszuleben, was in ihm steckt. Diesen Appell transportiert Dorle Wolfs eindrückliche Schau. Gelingen kann dies allerdings nur in Freiheit. Und in Freiräumen. In solchen, die einem Menschen zugestanden werden. Und in solchen, die man sich selbst zugesteht. Dorle Wolf gesteht sich in der Kunst jede Freiheit zu. Davon sprich der Mix an Stilen und Techniken ihrer Werke: "Ich will mich nicht auf eine Technik festlegen lassen." Davon erzählt der ein wenig verstörende Titel der Ausstellung. Und die völlig unprätentiöse Weise, in der Dorle Wolf von sich und ihrem anspruchsvollen Schaffen spricht.
Es war in erster Linie die Tatsache, dass sie frei sich für die Kunst entscheiden konnte, durch die Dorle Wolf spätberufen Künstlerin wurde. Wäre ihr Mann nicht so aufgeschlossen gewesen, hätte Dorle Wolf ihren Weg womöglich nicht gehen können. Rainer Wolf jedoch akzeptierte den Wunsch seiner Frau bedingungslos. Und profitiert davon bis heute ungemein. Das zeigen tiefgründige, komplexe Gemeinschaftsarbeiten wie "Quantenschaum 1033-fach" oder "...und Gott würfelt doch".
Die aktuelle Ausstellung in der Galerie im Treppenhaus des Kolping-Center Mainfranken mit der Künstlerin Dorle Wolf ist montags bis freitags von 8 bis 18 Uhr und samstags von 8.30 bis 15 Uhr bei freiem Eintritt zu sehen. Am 8. Juli findet um 19 Uhr eine Midissage im Kolping-Center Mainfranken statt. Eine Anmeldung hierfür ist aufgrund der allgemeinen Hygieneregeln und begrenzten Plätzen nötig.